Rosa Süß & Hanna Klingseisen 2024
Textilien sind vielfach metaphorisch belegt, sie fungieren als direkte Hülle oder Verbindung zum Außen – als Kleidung, Decken, Vorhänge, Zelte. Darin suggerieren sie Sensualität, Wärme, Geborgenheit und Schutz. In ihrer Kategorisierung dienen sie sowohl der Zugehörigkeit im Sinne einer Uniform, wie auch der individuellen Abgrenzung.
In der Konstruktion einer individuellen Kontur durch Haut, Kleidung oder persönliche Einstellungen wird eine Grenze zum Außen gezogen und damit eine scheinbare Form gegeben. Die Kontur trennt uns vom Gegenüber ab und kann doch dazu beitragen, Teil eines Ganzen zu sein. So wird im Austausch, in der Verbindung mit einem Gegenüber immer ein wenig das DU zum ICH. Es gibt kein Selbst ohne einen Anderen, keine Subjektivität ohne Intersubjektivität.
Was passiert im Dazwischen, einem Raum der Schnittmenge und Vermischung? Wie sehr brauchen wir eine eigene Form und wie widerspricht diese dem Wunsch nach Zugehörigkeit? Wenn Berührungspunkte entstehen, lösen sich Grenzen oder formen sich neu, somit ist das Ende des Einen der Anfang des Anderen. Wir grenzen uns über unsere Individualität ab, jedoch findet zeitgleich eine Entgrenzung statt, indem wir mit einem Teil der Öffentlichkeit verschmelzen, in unserer Darstellung, Arbeit, politischer Einstellung und dem globalem Denken.
„Das dominierende Kollektive wird zur bequemen Sphäre, als Ausdruck der immerwährenden Ferien vom Ich“ (Thomas Mann)
In der aktuell zu beobachtenden Polarisierung der Gesellschaft wird die Sehnsucht, Teil eines großen Ganzen zu sein, offensichtlich. Die Komplexität moderner Gesellschaften verführt dazu, die eigenen Grenzen zu verwischen – ein Sich-Fallen-Lassen in kollektive Meinungen und Ideologien. Dieser Prozess der Entgrenzung führt zum Verlust der eigenen Kontur, die Anstrengung, diese zu erhalten, scheint obsolet.
Andersherum gedacht, ist das Auflösen in der Masse ein negativer Vorgang, ein Velust. Demgegenüber steht ein postiver, wenn individuelle Konturen in ihrer Einzigartigkeit aufeinander treffen und in ihrer Berührung und Vermengung ein Neues zu schaffen.
Randbereiche 2023
„Die Grenze ist keine räumliche Tatsache mit soziologischer Wirkung, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt." (Georg Simmel)
Textilien fungieren als natürliche Grenzen, sie sind Kleidungsstücke, Decken, Vorhänge, Zelte. Stoffe sind eng verknüpft mit emotionalem Erleben und persönlichen Erfahrungen, ihr taktiler Reiz ist in unserer leiblichen Erinnerung eingeschrieben.
Das Textile als das den Körper Umhüllende ist Teil des ersten Eindrucks einer Begegnung, es entscheidet über Nahbarkeit und Abgrenzung, Empathie oder Zweifelhaftigkeit des Gegenübers.
Die Komplexität der Grenze besteht darin, dass sie wahrzunehmen nur von außerhalb, in der Vogelperspektive oder durch ihr Verletzen, also in einer Überschreitung der Grenze gelingt.
Hanna Klingseisen beschäftigen Be- und Entgrenzungen, im privaten wie gesellschaftlichen Kontext.
Ursprünglich ausgehend von Erfahrungen der Mutterschaft, stellt sie sich in ihrer künstlerischen Auseinandersetzung Fragen, die weit über diesen persönlichen Raum hinausgehen: Wieviel bleibt vom Selbst, von der eigenen Kontur, wenn eine ständige, (zeitlich wie räumliche) Verbindung mit zu anderen Menschen besteht?
Was macht unsere eigene Grenze aus? Wodurch entstehen Verbindungen?
Gesellschaftliche Entgrenzungen zeigen sich im Lösen von Strukturen, dabei steht das Individuum der Gemeinschaft gegenüber.
Trotz stetig zunehmender Individualisierung und damit einhergehender Abgrenzung, verschmelzen wir gleichsam mit der Öffentlichkeit – in unserer Darstellung, in unserem Arbeiten und globalem Denken.
In gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht entstehen neue Berührungspunkte, Grenzen lösen sich, formen sich neu. Das Ende des einen wird zum Anfang des anderen.
Verwoben mit unserem Selbst und der Außenwelt, formt unsere individuelle Wahrnehmung Begrenzungen oder ermöglicht es, diese aufzulösen.
Wie ziehen wir die Grenzen zwischen den Dingen, und welche Beziehung besteht zwischen inneren und äußeren Grenzen?
2021/2022